Systemisches Arbeiten – wertschätzend, offen, das Ganze im Blick - Ein Interview mit Petra Baumgärtner

Sie sind am systemischen Ansatz interessiert und möchten einen Einblick in die Methodik erhalten oder Ihre Kenntnisse erweitern und vertiefen? Neben der von der dgssa zertifizierten kompakten zwölfmonatigen akademischen Weiterbildung Systemische Beratung in der Sozialen Arbeit bieten wir mit der Dozentin Petra Baumgärtner auch zwei Seminare für Einsteiger*innen und Fortgeschrittene an.

 

Der Systemische Ansatz ist der mit am weitesten verbreitete Therapie- und Beratungsansatz und wird in vielen Bereichen eingesetzt. Wir sprachen mit Petra Baumgärtner über die Bedeutung Systemischen Arbeitens in der Sozialen Arbeit gerade auch in Krisenzeiten.

PAS: Was steckt hinter dem Begriff "Systemisch"?

PB: Die Systemtheorie geht davon aus, dass wir alle unsere Wirklichkeit selbst konstruieren, insofern gibt es keine objektive Wirklichkeit. Systemiker*innen nutzen diese Prämisse, um bei Herausforderungen eine Vielzahl von Perspektiven zur Problembeschreibung zu generieren. Je vielfältiger die Ideen (Hypothesen), um so kreativer wird der Möglichkeits- oder Lösungsraum gefüllt. Die zahlreichen Impulse der Systemmitglieder (Familie, Team, Organisation, Netzwerk) tragen zur Verflüssigung von festgefahrenen Mustern bei. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um die Nützlichkeit der Beschreibungen und Ideen.

Systemiker*innen fragen nach dem Gewinn und dem Preis zur Aufrechterhaltung von belastenden Mustern. Symptomen wird eine innere Logik zugeschrieben, es gibt sozusagen gute Gründe zu deren Entstehung. Die Auftraggeber entscheiden dann selbst, ob sie eine Veränderung anstreben. Nach der Auftragsklärung, bieten wir eine Fülle von anregenden systemischen Interventionen an, um gemeinsam im Prozess die vereinbarten Ziele zu erreichen.

PAS: Warum ist Systemisches Arbeiten gerade in der Sozialen Arbeit sinnvoll und relevant?

PB: Die Soziale Arbeit beinhaltet ein riesiges Spektrum an Arbeitsfeldern. Da bietet sich das Systemische an, da es sowohl in der Beratung von Einzelnen, Paaren und Familien aber auch im Umgang mit Kindern und Jugendlichen sowie in Leitungs- und koordinierenden Funktionen eine hohe Anschlussfähigkeit besitzt.

Die zentrale Haltung der Wertschätzung und das Reframing (innere Logik einer schwierigen Verhaltensweise) bieten besonders Menschen in einschränkenden Lebenssituationen positive Entwicklungschancen. Einerseits profitieren die Fachkräfte von einer Weiterentwicklung ihrer professionellen Haltung, andererseits verfügen sie nach ihrer Systemischen Weiterbildung über solide theoretische Handlungsgrundlagen und sind in der Lage ihren gut gefüllten Methodenkoffer situativ einzusetzen.

PAS: Wo und wie kommt Systemisches Arbeiten in der Sozialen Arbeit zum Einsatz?

PB: An dieser Stelle möchte ich mich auf ein Beispiel beschränken, da die Einsatzmöglichkeiten zahlreich bis unendlich sind. Sozialarbeiterin A ist als Sozialpädagogische Familienhelferin tätig und betreut eine Familie, mit multiplen Problemen. Sie arbeitet auf Auftrag des örtlichen Jugendamtes, ein Hilfeplan ist gemeinsam mit der Familie erarbeitet worden und die Grundlage der Aufträge in diesem Dreieckskontrakt. Sie führt bei ihrem Einsatz eine sorgfältige Auftragsklärung mit allen Familienmitgliedern durch, denn Vater und Mutter könnten unterschiedliche Ziele und Erwartungen haben. Auch die Kinder haben eigene Aufträge.

Die Fachfrau erarbeitet nun mit den Beteiligten realistische erste Ziele im Abgleich mit denen des Hilfeplanes heraus. Im folgenden Beratungsprozess erhöht sie die Komplexität mit Methoden der systemischen Diagnostik (Genogrammarbeit, Hypothesenbildung, Netzwerkarten etc.) und erreicht damit eine Vielzahl von unterschiedlichen Perspektiven auf die Herausforderungen. Sie stimmt sich im Verlauf über die nächsten zu bearbeitenden Schritte mit allen Beteiligten ab und nutzt auf der Bearbeitungsebene ihren systemischen Werkzeugkoffer (Zirkuläre Fragetechniken, Familienbrett, Timeline etc.).

Ihre stärksten Helfer*innen sind dabei eine wertschätzende und allparteiliche Haltung.  Zum Ende des Prozesses lädt sie die Beteiligten ein, gemeinsam deren Erfolge zu feiern und macht sich entbehrlich, indem sie auf die zahlreichen aktivierten Ressourcen des Systems vertrauen kann.

PAS: Welche Bedeutung hat das Systemische Arbeiten, Ihrer Meinung nach, in der Sozialen Arbeit jetzt während der Corona-Pandemie? Hilft die systemische Praxis als Unterstützung in der Krise? Was sind Ihre Erfahrungen?

Systemiker*innen haben ein positives Krisenverständnis: So leidvoll eine Krise im Erleben der Einzelnen sein mag, ist sie aus der Zukunft heraus betrachtet ein echter Schatz zur Entdeckung und Weiterentwicklung eigener Stärken. Die Veränderungsbereitschaft von Menschen und Organisationen ist in angenehmen Zeiten recht niedrig. In Krisenzeiten sind wir zur Veränderung herausgefordert.

In der ersten Phase mögen sehr unterschiedlichen Reaktionen an die Oberfläche kommen, wie z. B. Leugnung oder Bagatellisierung der Situation oder Ängste, die zunächst die Handlungsunfähigkeit verstärken. Im weiteren Verlauf entdecken die Betroffenen aber alte/neue Möglichkeiten zur Bewältigung von Krisen. Eine schöne systemische Frage wäre in diesem Kontext: Wenn Sie sich vorstellen, sich schauen nach zwei Jahren auf die Corona-Krise zurück, welchen Rat würden Sie sich aus der Zukunft in die Gegenwart geben, damit Sie diese Situation bestmöglich meistern?

Viele Organisationen haben im Lockdown innerhalb weniger Tage ihre Angebote auf die neuen Bedingungen umgestellt. Das ist eine fantastische Phase gewesen, in der die Fachkräfte der Sozialen Arbeit weltweit ihre fachlichen - und ihre Schlüsselkompetenzen gebündelt neu ausgerichtete haben. Dabei sind die systemisch unabdingbaren Fokussierungen auf die Erweiterung des Möglichkeitsraumes und die Lösungsorientierung ausgesprochen hilfreich. Varga von Kibed hat einmal wie folgt geäußert: Wenn du nur zwei Lösungen siehst, hast du mindestens drei übersehen! In diesem Sinne habe ich viele Einrichtungen begleiten dürfen, die mit Schwung und Kompetenz wunderbare Lösungen gefunden und umgesetzt haben.

Petra Baumgärtner ist Personalentwicklerin (M.A.), Diplom-Sozialpädagogin (FH), Systemische Therapeutin, Beraterin und Supervisorin (SG). Sie hat langjährige Erfahrungen in Beratungs- und Personalführungskontexten und ist freiberuflich als Dozentin mit Schwerpunkt Systemische Beratung tätig.

Systemische Beratung in der Sozialen Arbeit – Akademische Weiterbildung zertifiziert durch die dgssa (Deutsche Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit)

Für Fachkräfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit, Sozialpädagogik und angrenzender Bereiche (mit Hochschulabschluss oder einschlägiger Berufsausbildung). Darüber hinaus ist ein Nachweis der Anwendungsmöglichkeit von Systemischer Beratung / Systemischem Arbeiten in der Berufspraxis erforderlich.

Start: 25.03.2022, Anmeldeschluss: 22.02.2022, Heidelberg/Frankfurt, € 3.690,-

Informationsveranstaltungen

Samstag 14.01.2022, 18 - 19:00, Online,Anmeldung erforderlich

Als Ansprechpartnerin steht Ihnen Venus Rosstami gerne zur Verfügung unter: 0171 7375667, rosstami@akademiesued.org