Interview mit Stephan Straßer - Dozent von Muttersprache der Gehörlosen – Einblicke in Gebärdensprache und Gehörlosenkultur

Wussten Sie, dass „Gebärdensprache eine dreidimensionale, visuelle und vollwertige Sprache“ ist? Wenn Sie ein Talent für Sprachen haben, dann bekommen Sie, laut unserem Dozenten Stephan Straßer, schon sehr bald eine einfache Unterhaltung (Smalltalk) hin, um über politische oder wissenschaftliche Themen diskutieren zu können, benötigt man natürlich mehrere Jahre. Weitere interessante Fakten im Interview.

Rund 80.000 gehörlose Menschen leben in Deutschland. Stephan Strasser’s Muttersprache ist die Gebärdensprache, die er nahezu perfekt beherrscht. Im Interview erfahren Sie weitere faszinierende Fakten über die Gebärdensprache, welche Vorurteile er gerne aus dem Weg räumen würde und wie man ohne Gebärdensprachkompetenz mit Gehörlosen kommunizieren kann.

PAS: Wie sollte man einer*einem Gehörlosen am besten begegnen, wenn man (erstmalig) auf sie * ihn trifft?

SS: Viele Menschen sind aufgrund der schwierigen Kommunikationssituation überfordert und reagieren verunsichert, da sie sich nicht darauf einstellen konnten. Man sieht dem Gegenüber die Gehörlosigkeit ja nicht an. Eigentlich ist die Situation vergleichbar mit einer Begegnung mit Migranten. Man sollte keinesfalls mit Mitleid oder Bedauern reagieren. Man sollte offen, interessiert und kreativ sein, auf die Person zugehen und sich Mühe mit der Kommunikation geben.

PAS: Könnten Sie kurz den Unterschied zwischen Gebärdensprache und Lautsprache erklären?

SS: Gebärdensprache ist eine dreidimensionale, visuelle und vollwertige Sprache. Sie besteht aus Mimik, Gestik, Körperhaltung und den Gebärden, die im Gebärdenraum ausgeführt werden. Ein besonderes Merkmal ist die Simultanität. Verschiedene Tätigkeiten oder Begebenheiten können gleichzeitig vermittelt werden. Gebärdensprachen sind ebenso komplex wie Lautsprachen. Sie verfügen über eine eigene Grammatik. Ebenso wie bei Lautsprachen, kann man alle Inhalte damit vermitteln. Da Gebärdensprachen visuell sind, gibt es lediglich Hilfsmittel, mit denen man Gebärden „verschriftlichen“ kann. Dies ist jedoch nicht vergleichbar mit der Schriftsprache von Lautsprachen. Ebenso wie Lautsprachen gibt es unterschiedliche nationale Gebärdensprachen und innerhalb eines Landes Dialekte. Bei DGS gibt es keine „Hochform“, vergleichbar mit Hochdeutsch. Gebärdensprachen sind unabhängig von den in den jeweiligen Ländern verwendeten Lautsprachen z. B. in Deutschland DGS (Deutsche Gebärdensprache) – in Österreich ÖGS (österreichische Gebärdensprache); ebenso verhält es sich mit USA / Großbritannien / Australien usw. Lautsprachen sind zweidimensionale, akustische und serielle Sprachen. Sie bestehen aus einer Aneinanderreihung von Worten. Die Grammatik unterscheidet sich stark von der Grammatik von Gebärdensprachen. Es gibt in der Regel immer eine Schriftsprache.

PAS: Welches gehört zu den größten Irrtümern oder Vorurteilen über Gehörlose, das Sie unbedingt ausräumen wollen?

SS: Typische Vorurteile sind: Gehörlose können nicht sprechen, sie können gut von den Lippen absehen, sie sind kognitiv eingeschränkt, sie brauchen ständig Hilfe im Alltag. Gehörlose können – sofern keine weitere Behinderung oder Krankheit vorliegt – sprechen; abgesehen davon sprechen / kommunizieren sie über Gebärdensprache. Da viele deutsche Wörter ein ähnliches Mundbild haben, ist der Erfolg beim Lippenlesen begrenzt; hinzukommt, dass jeder Mensch ein anderes Mundbild hat, evtl. Dialekte verwendet usw.;

Gehörlose sind in der Regel nicht kognitiv eingeschränkt, lediglich die Stimme / Sprache klingt bei einigen ungewohnt, da sie durch das fehlende Hörvermögen ihre Stimme nicht so gut kontrollieren können wie Hörende. Sie müssen sich die Artikulation mühsam antrainieren und quasi auswendig lernen. Da Deutsch für Gehörlose eine Fremdsprache ist, ist deren Schriftsprachkompetenz sehr unterschiedlich. Bei manchen ist sie nicht besonders gut, was wiederum das Vorurteil der kognitiven Defizite schürt.

Gehörlose bewältigen ihren Alltag in der Regel problemlos selbst; lediglich in der Kommunikation mit Hörenden oder im öffentlichen Raum stoßen sie auf Barrieren.

PAS: Weg vom Defizitären. Sie bezeichnen Gehörlöse als „eigene kulturelle Minderheit“ bzw. sagen, dass Gehörlöse sich weniger als Behinderte sehen, als vielmehr einer Sprachminderheit zugehörig. Was können wir Hörenden von Ihnen, den Gehörlosen lernen?

SS: Die meisten Gehörlosen sind offen und neugierig, gehen auf Mitmenschen zu, geben sich sehr viel Mühe mit Menschen, die einer anderen Kultur angehören oder eine andere Sprache benutzen, wobei es völlig gleichgültig ist, ob es eine andere Laut- oder Gebärdensprache ist. Viele reisen sehr gern und scheuen sich nicht davor, mit anderen in Kontakt zu treten, auch wenn sie sie nicht auf Anhieb verstehen.

PAS: Es dauert Jahre bis man das ausgeklügelte System aus Zeichen und Gesichtsausdrücken, also die Gebärdensprache erlernt? Welches „Handwerkszeug“ gibt es für die Kommunikation mit Gehörlosen trotz fehlender Gebärdensprach-kompetenz. Können Sie ein Beispiel nennen?

SS: Wie bei jeder anderen Fremdsprache auch, hängt es ganz davon ab, wie talentiert man ist, wie viel man übt und wie viel Kontakt man zu Muttersprachlern, in diesem Fall zu Gehörlosen hat, bis man die Sprache beherrscht. Abgesehen davon hängt es auch davon ab, welche Ansprüche man hat. Eine einfache Unterhaltung (Smalltalk) bekommt man schon sehr bald hin, um über politische oder wissenschaftliche Themen diskutieren zu können, benötigt man natürlich mehrere Jahre.

Mit etwas Kreativität und dank der modernen Technik ist es sehr einfach, trotz fehlender Gebärdensprachkompetenz mit Gehörlosen zu kommunizieren. Auf Dinge, die in der Nähe sind, kann man zeigen. Man kann Pantomime benutzen, Tätigkeiten vormachen, natürliche Gebärden verwenden (essen, trinken, schlafen…), etwas aufzeichnen (auf Papier, in den Sand, auf den Boden, in die Luft…), man kann schreiben (auf Papier, auf dem Handy, PC…), man kann einfache kurze Sätze deutlich sprechen (Mundbild bitte normal, nicht überdeutlich, nicht extrem langsam) und vielleicht einzelne Gesten dazu machen…

PAS: Was wäre Ihr konkreter Wunsch, um die Öffentlichkeit stärker für die Bedürfnisse Gehörloser und deren Kultur zu sensibilisieren?

In anderen Ländern sind Untertitel und Dolmetschereinblendungen im Fernsehen Standard. Bei uns leider nicht. Wenn Dolmetschereinblendungen bei allen Nachrichten, bei Pressemitteilungen, Übertragungen von öffentlichen Auftritten von Politikern usw. normal wären, wenn im öffentlichen Raum Barrierefreiheit herrschen würde, z. B. visualisierte Informationen am Bahnsteig oder generell im öffentlichen Raum (analog zu Lautsprecherdurchsagen), visualisierte Rauchmelder und Klingelanlagen in Hotels und öffentlichen Gebäuden, visuelle Notrufsysteme in Aufzügen, Dolmetschereinsätze bei öffentlichen Veranstaltungen wie Bürgerversammlungen, ohne sich vorab anmelden zu müssen, damit ein Dolmetscher bestellt werden kann, regelmäßige kulturelle Angebote in Gebärdensprache und ein Wahlfach DGS in Schulen (analog zu anderen Sprachangeboten), wenigstens ein gebärdensprachkompetenter Mitarbeiter in Behörden usw., dann wären Gehörlose und ihre Bedürfnisse viel präsenter, dann wäre es für viele nicht so fremd, wenn sie mal persönlich auf einen Gehörlosen stoßen und es wäre für alle ganz normal, dass Gehörlose ein fester - und dann auch sichtbarer -  Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Die Gesellschaft sollte Gehörlose, so wie jeden anderen Menschen auch, als Individuum mit ganz persönlichen und individuellen Merkmalen betrachten und nicht nach ihren Defiziten beurteilen.

Stephan Straßer ist gehörlos und wurde selbst in eine hörende Familie geboren. Die Gebärdensprache, die er in ziemlicher Perfektion beherrscht, ist nicht nur seine Muttersprachen, sondern auch sein Beruf. Er arbeitet als staatlich anerkannter Gebärdensprachdozent und leitet als Informatikkaufman die Finanzen und die Gebärdensprachschule des Gehörlosenverbands München und Umland e.V.

Muttersprache der Gehörlosen – Einblicke in Gebärdensprache und Gehörlosenkultur
17. Juni 2024, 11:00 - 14:00, online

Kontakt & Beratung

Judith Nieder, Telefon: 01577 7692794, nieder@akademiesued.org

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