Fokus Kinder - von getrennten oder psychisch kranken Eltern

Im Interview mit der Dozentin und Beraterin Dagmar Wiegel spricht sie über diese besondere Klientel. Erfreulich: die Notwendigkeit der besonderen Unterstützung dieser Familien ist in der Fachwelt angekommen. Dennoch kommt es immer wieder zu Irritationen bei Kooperationspartner und Auftraggebern. Die Arbeit von Dagmar Wiegel wird vom BMG (Bundesministerium für Gesundheit) als bundesweit besonders erfolgreich und beispielhaft angesehen. Was sie anders macht, erfahren Sie hier.

Etwa 15 % der Bevölkerung sind von einer psychischen Erkrankung betroffen, die Lebenszeitprävalenz für eine psychische Störung liegt mit fast 50 % noch deutlich darüber. Viele Erwachsene mit psychischen Erkrankungen sind auch Eltern und tragen damit neben der Belastung durch ihre Krankheit für sich selbst, ihre Partnerschaft und ihre Berufstätigkeit auch noch Verantwortung für eine Familie mit all den dazugehörigen Herausforderungen.

In Deutschland wachsen ungefähr drei bis vier Millionen Kinder und Jugendliche mit mindestens einem psychisch kranken Elternteil auf; zwischen 10–30 % der betroffenen Mütter haben minderjährige Kinder. Der Sozialpsychiater Asmus Finzen bezeichnete sie als „vergessene Risikogruppe“, da die Gefahr, selbst psychisch zu erkranken, bei ihnen um ein Vielfaches höher ist als bei Kindern psychisch gesunder Eltern. [1]

Auch unter Trennung leiden Kinder und brauchen in dieser Zeit besondere Unterstützung. Laut Statista lag die Anzahl minderjährigen Scheidungskinder im Jahr 2022 in Deutschland bei mehr als 115.000. [2]

Die Anzahl der Scheidungen ist zwar im Laufe der Jahre gesunken, doch die Zahl der Alleinerziehenden ist seit den 90er Jahren bis heute gestiegen. Von den rund 13 Millionen Kindern unter 18 Jahren leben inzwischen 18 Prozent mit einem Elternteil im Haushalt. In neun von zehn Fällen ist dies die Mutter.

PAS: Als Abteilungsleitung in einer gemeinnützigen Stiftung in Köln, entwickeln Sie seit über 20 Jahren eine Angebotspalette für psychisch kranke Eltern und ihre Kinder, die vom BMG (Bundesministerium für Gesundheit) als bundesweit besonders erfolgreich und beispielhaft gesehen wird. Was machen Sie anderes/besser als andere?

DW: Wichtige Erfolgsfaktoren dafür sind folgende: Wir haben uns sehr früh das Thema Regelfinanzierung und die dafür nötigen Rahmenbedingungen als Ziel gesteckt. D.h. dass wir langfristige Partnerschaften geknüpft haben. Auch entwickelten wir kontinuierlich Verbesserungen in unseren bestehenden Angeboten und setzten kontinuierlich wissenschaftliche Erkenntnisse ein und um.

PAS: Was bedeutet der „systemische Blick“ und können Sie ein Beispiel für eine systemische Intervention nennen, die für die Kinder hilfreich ist, deren Eltern sich trennen?

Es geht nie ausschließlich darum sich auf das Individuum „Kind“ zu fokussieren. Das Kind selbst trägt auf eine Art in sich das viel vom gesamten Familiensystem. Daher lohnt es sich bspw. mit zirkulären Fragen auch die körperlich „nichtanwesende Person“ mitzudenken und dem Kind zu erlauben diese „Dasein zu lassen“.

PAS: Bei psychisch kranken Eltern und deren Kinder sind Fachleute gefordert sowohl gegenüber betroffenen Eltern als auch bei einer möglichen Gefährdungsbeurteilung für die Kinder professionell zu agieren. In ihrem Seminar Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder: Eine Herausforderung im professionellen Alltag erlernet man Grundkenntnisse zur professionellen Arbeit mit psychisch kranken Eltern und ihren Kindern. Neben Grundlagen der Forschung von Risiko- und Resilienzforschung und der Bedeutung psychischer Erkrankung, erhalten Teilnehmende einen Überblick über die Umsetzung in Ihren Arbeitsalltag mit Hilfe von Instrumenten und Methoden und lernen das Best Practice „Netz I Werk“ aus Köln kennen.
Können Sie uns etwas mehr über das Best Practice „Netz I Werk“ aus Köln verraten?

DW: Das Netz I Werk ist eine Abteilung in der gemeinnützigen Stiftung Leuchtfeuer in Köln. Hier entwickeln wir seit 2011 verschiedene Angebote für psychisch belastete Familien, die von der Prävention bis hin zur Krisenintervention reichen. Finanziert sind wir sowohl vom Jugendamt als auch vom Gesundheitsamt Köln. Dies erlaubt uns einen systemübergreifenden Blick auf die Familien. Dafür wurden wir auch vom BMG (Bundesministerium für Gesundheit) als eine von acht bundesweit besonders erfolgreichen Angeboten hervorgehoben. Das spornte uns an diesen Weg weiterzugehen und kontinuierlich unsere Angebotspalette zu erweitern und zu verbessern.

PAS: In Psychisch kranke Eltern und Ihre Kinder – Erfolgsfaktoren interdisziplinärer Kooperation und Supervision erlernen Teilnehmende wesentliche Erfolgsfaktoren für eine nachhaltig strukturierte Versorgung der Familien und erhalten Anregungen wie dies in Ihrem konkreten Arbeitsfeld umgesetzt werden kann. Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

DW: Neben der sehr wichtigen Vermittlung von fachlichen Grundlagen im alltagspraktischen Umgang mit diesen Familien, ist es langfristig wichtig, auch auf struktureller Ebene die Erwachsenenpsychiatrie, Eingliederungshilfe und Jugendhilfe effektiv zu verknüpfen. Dies geschieht bei uns beispielsweise ganz praktisch mit der Durchführung von Elterngruppen in psychiatrischen Kliniken, die inzwischen für vier Kliniken in Köln zu deren Behandlungsangebot gehören. Weitergehend sind Kooperationsvereinbarungen inzwischen „state of the art“ und sollten bundesweit entwickelt und umgesetzt werden.

PAS: Sie haben Psychologie studiert, mehrere (therapeutische) Ausbildungen, arbeiten seit über 20 Jahren als systemische Supervisorin, Beraterin und Dozentin.
Welche Entwicklungen sehen Sie in diesem Bereich im Schlechten wie im Guten?

DW: Zunächst das Erfreuliche: Einerseits ist die Notwendigkeit der besonderen Unterstützung dieser Familien in der Fachwelt angekommen. Heute muss niemand mehr überzeugt werden, dass die betroffenen Kinder eine intensive Begleitung benötigen. Als ich vor 25 Jahren das Thema erkannte, war ich eher Einzelkämpferin, die man etwas verwundert, teils genervt zur Kenntnis nahm. Heute findet das Thema bundesweit Beachtung und Zuspruch. Welcher Fortschritt!

Jedoch: Erstaunlich ist für mich, wie schwer es der Fachwelt fällt, psychisch kranke Eltern als gleichberechtigte Partner in diesen Prozess einzubeziehen. Im Netz I Werk nehmen wir Partizipation und Transparenz von Interventionen und Gedanken gegenüber unseren Familien sprichwörtlich ernst. Dies löst immer wieder Irritationen bei Kooperationspartner und Auftraggebern aus. Offenbar gibt es weiterhin viele auch irrationale Befürchtungen rund um diese Familien.

Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder: Eine Herausforderung im professionellen Alltag
17. April, 09:00 - 13:00 & 24. April 2024, 09:00 - 13:00, online

Psychisch kranke Eltern und Ihre Kinder – Erfolgsfaktoren interdisziplinärer Kooperation und Supervision
30. Oktober 2024, 09:00 - 13:00, onlilne

Trennung und Scheidung – Ein systemischer Blick auf die Kinder
20. Juni 2024, 09:00 - 12:00, online

Kontakt und Beratung
Katrin Vetrano, 0711 286976-16, vetrano@akademiesued.org

Über die Dozentin:
Dagmar Wiegel ist als systemische Supervisorin DGSF seit 2004 bundesweit als Beraterin und Dozentin für Ministerien, Kommunen, Institutionen und Interessierte tätig. Als Abteilungsleitung in einer gemeinnützigen Stiftung in Köln, entwickelt sie seit über 20 Jahren eine Angebotspalette für psychisch kranke Eltern und ihre Kinder, die vom BMG (Bundesministerium für Gesundheit) als bundesweit besonders erfolgreich und beispielhaft gesehen wird. Ihre beruflichen Kompetenzen zu diesem Thema bezieht sie zusätzlich aus ihrem Psychologiestudium, ihrer Gestalttherapieausbildung, Körpertherapieausbildung und Erzieherinnenausbildung.

Quellen:

  1. https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/artikel/2021/11-2021-november-2021/kinder-psychisch-kranker-eltern
  2. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/484867/umfrage/anzahl-minderjaehrige-scheidungskinder-in-deutschland/
  3. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/familie/chancen-und-teilhabe-fuer-familien/alleinerziehende

Veröffentlichungsdatum